Kaum eine Marke lässt die Herzen der Gourmets unter den Fotografen höher schlagen als Angénieux. Und doch hat sich der wohl bekannteste französische Objektivhersteller schon vor geraumer Zeit aus dem Verkauf von Fotoprodukten verabschiedet, um sich dem Vertrieb elitärer Cinema-Objektive und geheimnisumwitterter Rüstungsgüter zu widmen. Das DEM 200 mm f/2,8 war eines der letzten drei Fotoobjektive von Angénieux, mit denen die Firma aus Saint-Héand ihre zweite (und letzte…) Inkursion in den heiss umkämpften Fotomarkt abschloss.
Der Gründer des Unternehmens, Pierre Angénieux, gilt als einer der Pioniere eines neuen Objektivtyps, der erstmals die Konstruktion von Weitwinkelobjektiven für Spiegereflexkameras ermöglichte. Unter der Bezeichnung “Retrofocus” brachte der französische Objektivspezialist mit dem R1 35 mm f/2,5 schon 1950 ein Objektiv heraus, das durch ein stark streuendes Vorderglied und ein sammelndes Hinterglied eine längere Schnittweite erlangte als angesichts der geringen Brennweite möglich gewesen wäre. Das Retrofokus-Prinzip wurde bald von anderen Herstellern wie Zeiss (Distagon im Westen und Flektogon im Osten), Schneider-Kreuznach (Curtagon und Super-Angulon), ISCO (Westrogon) und Enna (Lithagon und Ennalyt) aufgegriffen, um dann auch in Fernost eine grosse Verbreitung zu erfahren.
Ein zweites technologisches Standbein schuf sich Angénieux mit der Entwicklung von Zoom-Objektiven mit mechanischer Kompensierung : an Stelle der rein linearen Verschiebung einzelner Linsengruppen im Innern des Objektivs bewegten sich diese nun in komplizierten geschwungenen Bahnen, um die Veränderung der Brennweite und die Stabilisierung des Bildes zu bewerkstelligen. Während die Zoom-Objektive von Angénieux bis auf wenige Ausnahmen (45-90 mm f/2,8 für Leicaflex, 35-70 mm f/2,5-3,3, 70-210 mm f/3,5 und 28-70 mm f/2,6) hauptsächlich von der Filmindustrie eingesetzt wurden, konnte die Firma Dank der Retrofokus-Objektive schnell in der Fotobranche Fuss fassen : so war sie während dreissig Jahren einer der exklusiven Aussstatter der Alpa-Reflex von Alpa, einem kleinen, aber feinen Schweizer Präzisionsunternehmen, das zeitlebens auf eine eigene Objektivproduktion verzichtete und sich stattdessen auf die etablierten Objektivbauer Kinoptik, Kilfitt, Schneider-Kreuznach, Kern, Asahi Pentax und Angénieux verliess.
Nach einer längeren Auszeit kehrte Angénieux im Jahre 1982 wieder auf den Fotomarkt zurück. Den beiden Zooms 35-70 f/2,5-3,3 und 70-210 mm f/3,5 wurde trotz des hohen Preises weit mehr als ein Achtungserfolg beschert. So konnte die Fabrik mit ihren 600 Mitarbeitern zwei Jahre nach der Einführung der beiden Ojektive der starken Nachfrage aus Japan und den U.S.A nicht annähernd gerecht werden. Die Firma legte daraufhin mit zwei Festbrennweiten nach, die sich ähnlicher nicht sein könnten : 180 mm f/2,3 und 200 mm f/2,8.
Während das erstere der beiden lichtstarken Teleobjektive das Prädikat “APO” erhielt, das auf eine perfekte Korrektur der chromatischen Aberationen hindeutet, muss sich letzteres mit dem Beinamen “ED” begnügen. Und das, obwohl beide Objektive laut einem Artikel von Marco Cavina einen fast identischen optischen Aufbau mit einer Linse aus niedrig dispergierendem sowie sechs Linsen aus hoch brechendem Glas nebst einem Frontelement aus handelsüblichem optischen Glas aufweisen. Wahrscheinlich musste sich das lichtstärkere der beiden Objektive schon auf dem Papier von seinem lichtärmeren Cousin unterscheiden, um den Preisunterschied rechtfertigen zu können. Heute sind beide Objektive nur recht selten anzutreffen und wenn überhaupt nur zu stolzen Preisen. Dem 180 mm wurde dabei mehr Erfolg beschieden als dem 200 mm, das sich damals gegen eine ähnlich aufgestellte Konkurrenz (Brennweite und Lichtstärke) durchsetzen musste. Während anderseits eine Lichtstärke von f/2,3 beim 180 mm damals wie heute ein Alleinstellungsmerkmal darstellt.
Die beiden Angénieux Varioobjektive 35-70 f/2,5-3,3 und 70-210 mm f/3,5 mussten sich bei ihrer Markteinführung viel Kritik gefallen lassen. Nicht ganz zu Unrecht, denn der äussere Tubus und die Einstellringe dieser Objektive wurden aus glasfaserverstärktem Makrolon (Bayblend) gefertigt und liessen berechtigte Zweifel bezüglich ihrer Langlebigkeit und Widerstandsfähigkeit aufkommen. So weisen einige dieser Objektive mittlerweile Haarrisse in den Einstellringen auf. Bei der zweiten Version des Telezooms hatte Angénieux mittels einer Aluminiumfassung nachgebessert.
Die Aussentuben und Einstellringe der DEM 200 mm f/2,8 ED und DEM 180 mm f/2,3 sind ebenfalls aus « Bayblend » gefertigt, während im Innern eine Aluminum-Mangan-Magnesium-Legierung verbaut ist. Insgesamt wirkt das Objektiv sehr robust. Leider sind alle Beschriftungen nur aufgedruckt und dadurch kurzlebiger als die bei anderen High-End-Produkten üblichen Gravuren. Die Kenndaten des Objektivs sind auf der ausziehbaren Streulichtblende aufgebracht, während der Scharfeinstellring Entfernungsangaben in Meter (weiss) und Feet (gelb) zwischen Unendlich und 2,15 m präsentiert. Der Blendenring hat durchgehend halbstufige Rastungen zwischen f/2,8 und f/22, wobei die kleinste Blende für die Blenden-und Zeitautomatik der Contax-Kameras in grüner Farbe angelegt ist.
Die Länge des Objektivs verändert sich bei der Scharfeinstellung nicht. Die Innenfokussierung DEM (Differential Element Movement) sorgt dabei laut dem Hersteller für eine bei allen Abbildungsmaßstäben konstante Schärfe, einen gleichbleibenden Schwerpunkt sowie eine für den Einsatz von Polarisations-und Verlauffiltern prädestinierte feststehende Frontlinse. Die Scharfeinstellung ist dank DEM schnell und butterweich – allerdings ist sie auch so leichtgängig, dass man darauf achten muss, sie nicht unbeabsichtigt zu verstellen.
Wie üblich zeige ich Euch hier eine Testserie von f/2,8 bis f/16, die mit der Sony A7R II (42 Mpix.) nebst Stativ und 2 Sekunden Selbstauslöservorlauf bei 100 ISO fotografiert wurde. Ich habe mit maximaler Lupenvergrösserung und offener Blende auf die Kirchturmuhr scharfgestellt. Es handelt sich hier um fast ungeschärfte Ausschnitte in 200% – Vergrösserung, die Korrektur der chromatischen Aberrationen wurde in Adobe Camera Raw desaktiviert.
Die ganze Szene im Überblick
f/2,8
Linker oberer Bildrand (links), erweitertes Zentrum (Mitte) und rechte untere Bildecke (rechts)
f/4
Linker oberer Bildrand (links), erweitertes Zentrum (Mitte) und rechte untere Bildecke (rechts)
f/5,6
Linker oberer Bildrand (links), erweitertes Zentrum (Mitte) und rechte untere Bildecke (rechts)
f/8
Linker oberer Bildrand (links), erweitertes Zentrum (Mitte) und rechte untere Bildecke (rechts)
f/11
Linker oberer Bildrand (links), erweitertes Zentrum (Mitte) und rechte untere Bildecke (rechts)
f/16
Linker oberer Bildrand (links), erweitertes Zentrum (Mitte) und rechte untere Bildecke (rechts)
Die Fotos wurden mit Standardeinstellung in Camera Raw geschärft. Was Auflösungsvermögen und Kontrast anbetrifft, finde ich die Leistungen nahe Unendlich über das gesamte Bildfeld schon bei Offenblende so gut, dass Abblenden eigentlich nur zwingend ist, um eine grössere Schärfentiefe zu erreichen. Die Vignettierung bleibt auch bei Offenblende quasi unsichtbar, was wohl der grossen Frontlinse geschuldet ist. Der beste Schärfeeindruck ist bei Abblendung um 2 oder 3 Stufen (f/5,6 oder f/8) erreicht, wobei es allerdings zwischen der Offenblende und f/11 keine Unterschiede gibt, die nicht durch ein wenig aggressiveres Schärfen ausgeglichen werden könnten. Blende f/16 ist nur bei einem Mangel an Schärfentiefe interessant, da kleinere Details durch die Beugung verloren gehen, die Blende f/22 sollte tunlichst vermieden werden, denn die Schärfenverluste werden so eklatant, dass sie auch in der Nachbearbeitung nicht mehr ausgeglichen werden können.
Der fehlende Infrarotindex und das ED-Glas mit einem Brechnungsindex von 81,6 machten mir Hoffnung auf eine perfekte Korrektur des sekundären Spektrums. Doch dem ist leider nicht so. Bei allen Blenden sieht man deutliche purpurne und grüne Farbränder (laterale chromatische Aberrationen) entlang deutlicheren Kontrastübergängen. Trotz einer Linse aus niedrig dispergierendem ED-Glas ist das Objektiv also nicht perfekt apochromatisch auskorrigiert. Die Farbränder verschwinden dennoch fast vollständig nach einer automatischen Korrektion in Camera Raw oder Lightroom. Verglichen mit anderen Objektiven wie den Pentax SMC 200 mm f/2,5, Canon nFD 200 mm f/2,8 und Soligor P 200 mm f/2,8 bleiben sie diskret, während das Leitz Elmarit – R 180 mm f/2,8 (erste Version) in dieser Hinsicht fast genauso gut und das Nikon Nikkor AI-S 180 mm f/2,8 ED klar besser abschneidet.
In Sachen longitudinaler chromatischer Aberrationen (dem sogenannten « Bokeh Fringing ») ist das Angénieux DEM 200 mm f/2,8 ED hingegen erstaunlich gut korrigiert. Hier hat sich der Einsatz von ED – Glas ausgezahlt, denn die vor und hinter der Schärfenebene sichtbaren pupurnen und grünen Farbränder bleiben auch in Extremsituationen so gut wie unsichtbar.
Die Verzeichnung des Objektivs ist völlig unauffällig, denn es ist bei Motiven mit geraden Linien keinerlei Durchbiegung gerader Linien feststellbar. Die Randabschattung ist durch die übergrosse Frontlinse ebenfalls unbedenklich : nur in Ausnahmefällen bei Offenblende sichtbar, verschwindet die Vignettierung ab f/4.
Ein korrektes Auflagemass des Adapters vorausgesetzt (mein Adapter von K&F war etwas zu kurz und musste angepasst werden…), zeigt die Innenfokussierung über Floating Elements DEM des Angénieux 200 mm seine Wirksamkeit : auch bei der Mindestentfernung von 2,15 m ist es möglich, bei Offenblende über das ganze Bildfeld scharfe Ergebnisse zu bekommen.
Allerdings schleicht sich aufgrund einer leichten Unterkorrektur des Öffnungsfehlers (Sphärische Aberration) eine leichte Weichheit in die Kontrastkanten, was allerdings nur beim Pixelpeeping auffallen wird. Die Lichstärke des Objektivs kann also bei jeder Motiventfernung voll ausgereizt werden, um schlechten Lichtverhältnissen gerecht zu werden.
Wie vielleicht schon aus meinen anderen Objektivtests hervorgeht, bin ich kein Fan von “lautem”, aufdringlichem Bokeh, das vom eigentlichen Sujet eines Fotos ablenkt und sich unnötigerweise in den Vordergrund drängt.
Da ich aber trotzdem gerne mit Schärfe/Unschärfeverläufen arbeite, bieten sich mir für subtilere Effekte gut auskorrigierte Objektive an, die vor oder hinter der Schärfenebene weder Zwiebelringe noch Doppelkonturen (Nisen Bokeh) produzieren. Das in seiner optischen Konzeption moderne Angénieux DEM 200 mm f/2,8 ED ist daher für meinen Fotografie-Stil perfekt geeignet.
Das Objektiv hat übrigens eine neunblättrige Blende, deren Form sich auch abgeblendet noch der Idealform des Kreises annähert. Die Anmutung der Vorder – und Hintergrundunschärfe bleibt also selbst bei f/5,6 oder f/8 noch sehr angenehm und « organisch ».
Was die Farbwiedergabe und das allgemeine Rendering der mit diesem Objektiv gemachten Fotos anbetrifft, zeigt sich meiner Meinung nach die Erfahrung der im Cinema – Milieu sehr angesehenen Objektivschmiede : die Farben und die Kontraste haben ein gewisses “Je ne sais quoi”, das den Bildern eine sehr harmonische, filmische Anmutung verleiht. Die beiden Charakteristika wirken stets natürlich, ohne übersteigert zu wirken, die Unschärfenbereiche immer harmonisch, ohne visuell aufdringlich zu erscheinen.
Obwohl es sich augenscheinlich um ein Vintage-Objektiv handelt, besitzt das Angénieux DEM 200 mm f/2,8 doch eine Rechnung aus der zweiten Hälfte der 1980er Jahre und das schlägt sich auch in den aktiven und passiven Massnahmen zur Vermeidung von Flare und Geisterbildern nieder.
Die moderne Mehrschichtvergütung und die effiziente Schwärzung aller Oberflächen im Strahlengang ermöglichen es, mit der Sonne innerhalb oder knapp ausserhalb des Bildfelds kontrastreiche Aufnahmen ohne Geisterbilder und Blendenflecken zu produzieren.
Zumindest in Frankreich scheint den Fotografen bei Produkten von Angénieux jedes Urteilsvermögen abzugehen. So werden Objektive dieses Herstellers auf den üblichen Verkaufsplattformen zu Preisen gehandelt, bei denen ich nur den Kopf schütteln kann. Und das selbst, wenn es sich um Video – oder Projektionsobjektive handelt, die nicht oder nur mit Schwierigkeiten auf Kameras mit APS-C oder Vollformat-Sensoren adaptiert werden könnten.
So wird auch das DEM 200 mm f/2,8 ED zu Preisen angeboten, die das Objektiv eher für die Vitrine eines Sammlers als die Fototasche eines Fotografen prädestinieren. Ich würde jedenfalls nicht das Drei-oder Vierfache des Preises bezahlen, für das üblicherweise das Nikon Nikkor 180 mm f/2,8 ED über die Theke geht. Und mir wäre das Objektiv auch nicht das Doppelte eines Leitz Apo-Tely-R 180 mm f/3,4 wert.
Falls Sie wie ich dem DEM 200 mm f/2,8 unter günstigeren Bedingungen begegnen, sollten Sie allerdings sofort zuschlagen. Denn der Gesamteindruck der damit erstellten Aufnahmen ist zumindest für meinen Geschmack einfach grossartig.
Selbst wenn das Angénieux von manchen Zeitgenosen und neueren Vertretern dieser Objektivgattung in Sachen Auflösungsvermögen, Kontrast und Farbkorrektur überflügelt wird, hat es neben der Verzeichnungs -und Vignettierungsfreiheit noch ein Paar Trümpfe im Ärmel. So ist es sehr unempfindlich gegenüber Gegen-und Streulicht und mit seiner Innenfokussierung sowohl angenehm zu handhaben als auch im Nahbereich sinnvoll einzusetzen.
Die Ausgewogenheit der optischen Korrektur ist eines seiner grössten Stärken, denn sie wirkt sich das Bokeh aus. Jenes ist so schön und harmonisch, wie ich es nur von wenigen Objektiven kenne. Und das diesseits und jenseits der häufig sehr dünnen Schärfenebene.
Auch wenn ein 180 oder 200 mm f/2,8 Objektiv nicht so vielseitig ist wie ein ebenso lichtstarkes Reportage-Zoom, zeichnet es sich meist durch ein etwas geringeres Packmass, ein geringeres Gewicht, eine bessere Leistung bei Offenblende und ein schöneres Bokeh aus. Das Angénieux DEM 200 mm f/2,8 DEM besitzt all diese Vorteile und bietet ausserdem ein sehr angenehmes Handling, das mir bei jedem Einsatz ein Lächeln ins Gesicht zaubert.
Leider ist es bei den aktuellen Gebrauchtpreisen nur selten zu seinem vernünftigen Preis zu haben und die meisten Fotografen werden sich wohl in erster Linie nach anderen MF-Objektiven umschauen : Canon FD 200 mm f/2,8, Leitz 180 mm f/2,8, Minolta MD 200 mm f/2,8, Nikon Nikkor 180 mm f/2,8 ED, SMC Pentax 200 mm f/2,5, Tamron SP 180 mm f/2,5 oder Zuiko 180 mm f/2,8. Auch wenn dem Angénieux nur die Produkte von Leitz, Nikon und Tamron das Waser reichen könnten. Oder aber ein modernes AF-Objektiv von Canon, Nikon oder Minolta in Erwägung ziehen. Das Angénieux bleibt aber in jedem Fall ein interessantes « Monument » europäischer und französischer Fotogeschichte, das auch heute noch mit hochauflösenden Vollformatkameras überzeugen kann.